Der Blumenladen

„Der Blumenladen“ lauten die Zeilen dieses Beitrags aus dem Bereich “Lyrik und Poesie”. Der folgende Beitrag stammt von Helmut Voigt, der im Jahr 2017 verstorben ist und zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten sowie nachdenkliche Texte hinterlassen hat, die wir gerne veröffentlichen.

Der Blumenladen

Der Junge starrte auf die glitzernde Leuchtreklame. Elektrisch beleuchtete Sterne strahlten über den Geschäften. Vor einem besonders bunt dekorierten Schaufenster blieb er stehen. Ein vollautomatischer Weihnachtsmann blickte ihn streng an. In einer Hand hielt er eine Rute und über der linken Schulter trug er einen großen, roten Sack.
Es war schon irgendwie komisch aber aus irgendeinem unbestimmten Grund musste der Junge an ein Märchen denken, das ihm seine Mutter früher oft erzählt hatte. „Knüppel aus dem Sack“ lachte er in sich hinein „Tischlein deck` dich“ und „Goldesel“ wie ulkig, dachte er, denn neben dem beweglichen Weihnachtsmann stand tatsächlich ein kleiner Tisch, auf dem einige Geschenkangebote sortiert lagen: eine Puppe, die sprechen und weinen konnte, eine elektrische Eisenbahn, eine Maschinenpistole aus Plastik, ein netter kleiner Spähpanzer mit leblosen Soldatenfiguren und mehrere Stofftiere, unter ihnen ein Esel.  

Er spürte beim Betrachten dieser Dinge gar nicht, dass sich seine Nase am atembeschlagenen Schaufester plattgedrückt hatte. Jetzt erst sah er die wunderschön gezeichneten, schneeweißen Eisblumen an der Schaufensterscheibe. Er ging weiter.  Unechte, klappbare Kunststoffweihnachtsbäume mit Elektrokerzen, silbrigem Lametta und großen, vergoldeten Kugeln geschmückt, blickten ihm hinter Fenstern entgegen. Doch er musste immerzu an die malerischen Eisblumen denken.
—Blumen— wie ein Blitz durchfuhr ihn dieses Stichwort. Sofort fiel ihm der Blumenladen ein, der hier gleich um die die Ecke liegen musste. Es war ein kleiner, versteckt liegender, schäbiger Laden, doch hier gab es Blumen und vor allem billige Blumen. Dies hatte ihm seine Mutter gesagt.
Als der Junge eintrat stieg ihm der Duft von hunderten von Blumen in die Nase. Er wusste nicht genau warum, doch immer dann, wenn er einen Blumenladen betrat, musste er an eine Beerdigung oder Trauerfeier denken, den Geruch von Blumen auf Gräbern oder in den Abfalltonnen des Friedhofs.

Schließlich, nach einigem Suchen, entschied er sich für vier Christrosen, die ihm zwar schon etwas welk erschienen, die er aber auch bezahlen könnte. Da er aber kein Geld dabeihatte, gab er dem Verkäufer seine goldene Armbanduhr zum Tausch. „Fröhliche Weihnachten!“ rief der Verkäufer dem Kind noch hinterher, als es das Geschäft verließ. Die Türglocke klingelte und die Kasse klingelte auch.

„Kling Glöckchen, Klingelingeling“, sang der Junge fröhlich. „O du Fröhliche…“ singend und lachend lief er heim. Vor der Haustür stand ein bleicher Mann mit altem Hut, einer knallroten Nase und pechschwarzen Augen. Er schien den Schnee fortkehren zu wollen, denn er hielt einen großen Besen in seiner erfrorenen Hand. Er war sich wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass er, wenn er den Schnee beseitigten würde, auch sich selbst beseitigt. „Hallo, Herr Schneemann“, rief der Junge fröhlich, doch Herr Schneemann gab keine Antwort.
Das Kind flitze die Stufen der Treppe hinauf und hielt seiner überraschten Mutter die vier Christrosen entgegen. „Für dich, Mutti“, rief es stolz, „weil doch heute Heiligabend ist“! „Woher hast du denn das Geld dafür?“, fragte die Mutter in strengem Ton. „Aber Mutti, freust du dich denn gar nicht?“ „Hast du es etwa gestohlen?“ fragte sie und begann, das Geld in ihrem Portemonnaie nachzuzählen. „Nein Mutter, ich habe nichts dafür gezahlt, ehrlich“, beteuerte der Junge. „Wo kommst du überhaupt her, wo warst du denn so lange, weißt du denn nicht wie spät es ist?“
Das Kind blickte verlegen zu Boden. „Wo hast du denn deine Uhr gelassen?“, schrie die Mutter ihren Sohn an, weil sie das Armband an seiner Hand vermisste. „Verloren“, wisperte der Junge und schon bekam er einen Schlag mitten ins Gesicht. Für die Mutter war das Ereignis schon bald wieder vergessen, doch in dem Kind haftete immer noch die Erinnerung.
Die Sonne kam und die Tage vergingen. Auch die Eisblumen vergingen und der Schneemann schmolz dahin, doch das eisige Gefühl blieb bestehen. Als die Mutter des Jungen dann einige Jahre später starb und unter Kränzen, Nelken und Rosen begraben wurde, da musste der Junge wieder an die Christrosen und den Blumenladen denken.

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